Tsim Sha Tsui dürfte einer der teuersten Immobilienstandorte der Welt sein. Schuld daran sind, so heißt es, reiche Festlandchinesen, die ihr Geld nicht mehr in Aktien, sondern in Grundstücke, Bauwerke oder Wohnungen investieren. Die Quadratmeterpreise klettern seither in astronomische Höhen. Doch inmitten dieser Spekulationsblase blieben zwei Gebäudekomplexe erhalten, in denen die billigsten Unterkünfte Hongkongs zu finden sind. In einem davon habe ich in den vergangenen Tage übernachtet.
Die Mirador Mansions an der Nathan Road und ihr 50 Meter entfernt gelegener ungleicher Zwilling, die Chungking Mansions, sind berüchtigt, seit ihnen der Hongkonger Regisseur Wong Kar-Wai im Jahre 1994 mit „Chungking Express“ ein filmisches Denkmal gesetzt hat. „Für mich war das Haus immer ein mysteriöser Ort“, erklärt Wong Kar-Wai die Idee zu seinem Machwerk und führt weiter aus: „Als ich ein Kind war, haben meine Eltern mir immer streng verboten, Chungking Mansion zu betreten. Dieser übervölkerte und hyperaktive Ort ist eine großartige Metapher für die Stadt Hongkong.“ Bezeichnenderweise hat er große Teile des Filmes nicht in den Chunking, sondern in den Mirador Mansions gedreht.
Und die sind in der Tat eine Stadt in der Stadt. Ein Labyrinth bestehend aus Restaurants, Bistros, Geschäften und Wohnungen, in denen bis zu 4.000 Menschen leben. Wie viele es genau sind, weiß wohl niemand. Eigentlich sollten es wohl mehr sein, denn schließlich entstanden die Mirador wie auch die Chungking Mansions in den 60-er Jahren im Rahmen eines großen Immobilienprojektes, das den Wohnungsmangel in Hongkong reduzieren sollte. Offenbar haben die Verantwortlichen dabei nicht den Geschmack ihrer Zielgruppe getroffen. Die unübersichtliche Architektur und einfache Bauweise führten zum schnellen Wertverfall der Wohneinheiten, die sich im Besitz von mehreren hundert Eigentümern befanden. Große Teile der beiden Gebäudekomplexe standen bald leer.
Allmählich begannen die Besitzer, die Wohnungen unterzuvermieten. So bezogen nach und nach immer mehr Gewerbetreibende die Räume. Entstanden ist ein kruder Mix aus wohnen und Gewerbe, der irgendwie harmonisch wirkt. Gleich gegenüber meines Hotelzimmers, dass sich an einem umlaufenden Balkon in Innenhof befindet, scheint eine Näherei beheimatet zu sein. Gleich gegenüber sieht es so aus, als ob ein Kesselflicker seiner Arbeit nachgeht und nebenan schraubt ein alter Mann an Fernsehern herum. Im Erdgeschoss sind alle Dinge des täglichen Bedarfs erhältlich. Dazwischen gibt es aber augenscheinlich auch einige Wohnungen, in denen vor allem Menschen aus Indien, Sri Lanka, Nepal, Pakistan und Afrika sowie ein paar Chinesen leben.
Den größten Teil des Gebäudekomplexes haben inzwischen jedoch „Hotels“ in Beschlag genommen. Es dürften ein paar hundert mit Tausenden von Betten sein. Typischerweise sind ihre Zimmer sehr klein und beileibe nicht alle haben Fenster. Jeder Quadratzentimeter in den Räumen wird auf die effizienteste Art und Weise genutzt. Vor allem bei Rucksacktouristen sind diese Unterkünfte sehr beliebt. Wohl Millionen von ihnen hier in den letzten 50 Jahren genächtigt. Der Grund dafür ist einfach: Es sind mit Preisen um die 150 Hongkong Dollar (etwa 15 Euro) pro Nacht die billigsten Unterkünfte der Stadt. Sie befinden sich paradoxerweise inmitten des Zentrums in einer der teuersten Gegenden der Welt. Lange Zeit waren diese Hotels in Verruf geraten. Das änderte sich erst, als in den 90-er Jahren die Lizenzbestimmungen für Gasthäuser verschärft und mehrere Dutzend geschlossen wurden. Inzwischen werden die verbliebenen auch wieder in den Lonely Planet Reiseführern aufgelistet. Und nachdem ich hier einige Tage verbracht habe, kann ich sie für all diejenigen die nicht allzu viel Wert auf Komfort, dafür aber auf günstige Übernachtungskosten, eine extrem zentrale Lage und ungeschminkte Realität setzen, nur empfehlen.
Es sind Dutzende von kleinen Geschichten die ich hier beobachten konnte. Viele ereigneten sich in den viel zu kleinen Fahrstühlen, die andauernd auf- und abfahren. Zu Stoßzeiten kann es aber schon einmal vorkommen, dass man 30 Minuten auf den Lift warten muss. Um diesen Verkehr halbwegs zu regeln, halten die Hälfte der Fahrstühle nur in den geraden Geschossen, die anderen nur in den ungeraden. Und da man so gezwungen ist, nahezu immer den gleichen Fahrstuhl zu benutzen, sieht man immer wieder die gleichen Gesichter. Mehrfach hatte ich in den vergangenen Tagen den Eindruck, dass einige Leute das Gebäude nie verlassen. So begegnete mir immer wieder eine Frau, die stets im zehnten Stock ein- und im vierten wieder ausstieg oder den umgekehrten Weg einschlug.
Eine andere Geschichte passierte mir vor ein paar Tagen. Ich kam erst spät nachts zurück in die Mirador Mansions. Wie üblich wollte ich direkt zum Fahrstuhl gehen, wurde daran jedoch von einem Mann gehindert. Er forderte mich auf, mich zu registrieren und hielt mir ein Formular unter die Nase, in dem ich meinen Namen, meine Passnummer und meinen Wohnort angeben musste. Mit der Sicherheit nehmen die es hier ja wirklich sehr genau, dachte ich mir, um kurz darauf von der Wirklichkeit eingeholt zu werden. Auf meinem weiteren Weg begegneten mir allerlei zwielichtige Gestalten. Männer, die mir auf eine sehr höfliche Weise Uhren („echte Rolex für 75 Hongkong Dollar“) oder Haschisch verkaufen wollten. Oder die ältere Frau, die mich am Eingang des Lifts danach fragte, ob ich für die Nacht eine hübsche Dame (offensichtlich sprach sie nicht von sich selbst) brauche. Ein freundliches „Nein danke“ beendete die Verkaufsbemühungen aber immer sehr schnell. Dennoch hielten es alle für nötig, sich sehr freundlich und mit einem Lächeln von mir zu verabschieden. Auch das ist Hongkong.