Russland ist wohl nirgendwo so europäisch wie in St. Petersburg. Sagen zumindest die Russen. Diese Stadt in zweiundsiebzig Stunden zu entdecken – eine Herausforderung, die der Metropole im Norden kaum gerecht wird. Leider bleibt mir aber nicht mehr Zeit.
Immerhin: Ich habe es an die Neva geschafft. Und das ist in Zeiten der Krimkrise schon eine große Leistung. Um das Visa für die Einreise in die Russische Föderation zu bekommen, war ein bürokratischer Hindernisslauf zu bewältigen. Wohl nie zuvor habe ich so große Schwierigkeiten gehabt, die nötigen Papiere zu bekommen. Ganze zwei Monate hat es gedauert, in denen die Botschaft und ich einen intensiven Schriftverkehr pflegten.
Schließlich ist es geschafft und ich stehe etwa 14 km südlich des Stadtzentrums auf dem Rollfeld des Flughafens. Die Einreisekontrolle ist unerwartet angenehm kurz: Ein Blick in den Pass, ein weiterer ins Gesicht und schon öffen sich die Tore in eine sovjetisch geprägte Vorstadt, die vom Kapitalismus überollt wurde: An Gebäuden im stalinistischen Zuckerbäckerstil prangen unzählige Werbeplakate für Coca Cola, McDonalds und Co.
Ein Bus bringt mich recht schnell aus diesem Gomorra in das Znetrum der Stadt und schließlich in das Hotel Vasilievsky, das für die kommenden drei Tage meine Basis sein wird. Es ist versprüht einen etwas angestaubten noblen Charme, ist sehr angenehm eingerichtet und liegt am Rande des Zentrums. Einen besseren Ort als Start- und Endpunkt für Spaziergänge in die Stadt gibt es wohl kaum. Das ist für mich nicht unerheblich, denn ich habe mir auch für St. Petersburg fets vorgenommen, mich vorwiegend zu Fuß zu bewegen. Das Wetter spielt mit: Anfang Juli ist nicht zu heiß sondern angenehm warm und die weißen Nächte lassen lange Tage zu.
Auf den ersten Blick scheint St. Petersburg dafür gebaut worden zu sein, zu beeindrucken. Es ist die Stein gewordenen schiere Größe Russlands, welche die Stadt repäsentieren soll. Es gibt unglaublich breite Straßen, die von riesigen Bauwerken gesäumt werden. Sogar die Bordsteine sind so außergewöhnlich hoch, dass sie selbst einem 1,87 Meter großen Menschen wie mir zeigt, was für ein kleines Individuumer im Vergleich mit Mütterchen Russland ist. Alles an dieser Stadt ist schierer Größenwahn: Um die riesigen Kreuzfahrtschiffe über eigentlich viel zu kleine Wasserläufe bis ins Stadtzentrum zu bekommen, werden während der weißen Nächte, also jenen, in denen die Sonne nur für kurze Zeit untergeht, so dass es auch nachts dämmrig oder hell ist, hochgeklappt. Und im auf 101 Kanal -und Flussinseln erbauten Sankt-Petersburg gibt es über 500 Brücken, davon über 300 allein in der Stadt. Einen Spaziergang durch die Metropole macht man also besser tagsüber.
Mich zieht es zunächst an dene Newski-Prospekt, an der Reiseführer die meisten Sehenswürdigkeiten verorten. Und tatsächlich: Die Straße ist noch prächtiger als die ohnehin schon prächtigen zahlreichen Boulevards, welche die Stadt durchziehen. Vor allem der Abschnitt zvon der Moika bis zum Gribojedow-Kanal weiß mit seinen 40 Metern Straßenbreite zu beeindrucken. Auffälligstes Gebäude ist die 1801–11 von Andrei Woronichin erbaute russisch-orthodoxe Kasaner Kathedrale mit ihrer halbrunden 96-säuligen Kolonnade der korinthischen Ordnung und der markanten Dachkuppel. Sie ist mit einer Höhe von 71,5 Metern das höchste Gebäude auf dem Prospekt. Ein Platz, der durchaus zum Verweilen einlädt.
Mich aber zieht es weiter zum Jugendstilbau des Singer-Hauses unmittelbar links von der Kasaner Brücke über den Gribojedow-Kanal. Es beherrbergt die größte Buchhandlung der Stadt und einen der wenigen Orte, an denen man noch Postkarten bekommen kann. Briefmarken sucht man allerdings vergebens: Ihr Verkauf ist einzig der russichen Post vorbehalten, weshalb man beim Erwerb von Postkarten umgehend eine Wegbeschreibung zum nächsten Postamt ausgehändigt bekommt.
Doch zurück zum Singer-Haus: Der gleichnamige US-amerikanische Nähmaschinenhersteller ließ es in den Jahren von 1902 bis 1904 nach Plänen des Petersburger Jugendstilbaumeister Pawel Sjusor als Firmenzentrale für Russland errichten. Sjusor gelang mit dem siebengeschossigen Bau sein Meisterstück. Die verspielte Fassade mit ihren liebevoll geschwungenen Fenstern und den schmiedeeisernen Balkonen ist ein echter Hingucker. Bekrönt wird sie von einem kuppelähnlichen Türmchen aus Stahl und Glas an dessen Spitze sich ein gläsernern Globus von 280 Zentimetern Durchmesser befindet. Ein Anblick, der glücklich macht.
Nicht weit entfernt liegt die Auferstehungskirche (häufig auch Erlöserkirche genannt) am Gribojedow-Kanal. Sie wäre wohl in vielen anderen Ortend dieser Welt eine der Hauptsehenswürdigkeiten, ist sie doch über und über mit Mosaiken verziert. In St. Petersburg ist sie nur eine unter vielen. Irgendiwe wirkt das Gebäude deplatziert. Ein Blick in die Wikipedia verrät auch, warum dieser Eindruck nicht falsch ist: Der Bau entstand demnach nach dem Vorbild der Moskauer Basilius-Kathedrale im Jugenstil und ist der damit im Zentrum der Einzige, der sich nicht an italienischen und klassizistischen westlichen Baustilen orientiert. Erbaut wurde sie in den Jahren von 1883 bis 1912 nach Plänen Alfred Parlands an der Stelle, an der an der Alexander II. einem Attentat zum Opfer fiel. Tatsächlich war das Gebäude seit seiner Entstehung eher ein Denkmal denn ein Gotteshaus. Als Kirche wurde es nie genutzt. Stattdessen diente es im Laufe seiner Geschichte eals Konzerthalle, Museum und als Theater. Mehrfach sollte es niedergerissen werden, doch verhinderten jedesmal große Umwälzungen in der russischen Geschichte diese Pläne. Inzwischen ist die Auferstehungskirche wieder ein Museum, dessen Besuch meinen ersten Tag abschließt.
Am zweiten Tag möchte ich die Stadt entlang der Wasserläufe entdecken. Der Weg führt mich vom Hotel über die Most Leitenanta Shmidta (Leutnant-Schmidt-Brücke) auf die Straße Angliyskaya Nabereznaya am gegenüberliegenden Ufer der Newa, jener bis zu einem Kilometer breiten Lebensader der Stadt, welche die Erbauer dert Stadt bereits im 18. Jahrhundert in ein Granitbett zwängten. An ihrem mit eleganten Anlegeplätzen ausgestatteten Ufer liegen die Ursprünge und einige der prächtigsten Gebäude der Stadt, angefangen von der Kunstakademie über die alten Börse, dem wuchtigen Gebäude der Admiralität bis hin zur Eremitage, die unzweifelhaft der Höhepunkt einer Reise nach St. Petersburg darstellt, was sich auch mit den mit drei bis vier Millionen Besuchern im Jahr belegen lässt. Hat man sich jedoch erst einmal an den Schlangen vorbeigemogelt (oder vorher im Internet ein Ticket reserviert), laden 350 Ausstellungsräume mit insgesamt 57.475 m² Ausstellungsfläche zum Entdecken der mehr als über 3 Millionen Ausstellungsstücke ein. Gezeigt werden Werke der europäischen bildenden Kunst bis 1917 von da Vinci, Cezanne, Picasso, Monet, Rembrandt, Rubens, Matisse, Paul Gauguin, van Gogh und anderen bedeutenden Malern, eine 90.000 Stücke umfassende Münz -und Medaillensammlung, Kleidung der Zaren, Trohnstühle, Zarenkutschen, Waffensammlungen, verzierte Uhren, Gold und Silber im Überfluss, Porzellan, Statuen, antike Vasen sowie die weltweit größte Juwelensammlung. Zu viel, um alles auch nur annähernd erfassen zu können. Nicht an einem und auch nicht in zwei Tagen. Der weite Platz vor dem barocken Winterpalst im Zentrumder Anlage ist historisches Terrain: Dort begann 1917 die Oktoberrevolution als Bolschewiken und Matrosen unter Lenins Führung den Palast stürmten. Damit ist der Tag für mich aber noch längst nicht beendet. Es zeiht mich über die Brücke entlang der zurück zur Wassiljewski-Insel mit den Rostra-Säulen am Ostufer. Sie wurde 1811 nach griechischen und römischen Vorbildern als Leuttürme erbaut und sind mit Schiffsschnäbeln und Ankern verziert. Die Steinfiguren am Fuße der Säulen verkörpern die Flüsse Wolga, Newa und Wolchow. Ihre Funktion als Leuchttürme haben sie zwar verloren, aber zu besonderen Anlässen lässt die Stadt die Gasflammen an der Spitze der Säulen immer noch entzünden. Sie sind eine beliebte Sehenswürdigkeit der Stadt und vom Ufer an der Spitze der vor ihnen liegenden Landzunge giewähren sie einen der wohl schönsten Ausblicke der Stadt mit Eremitage auf der einen und Peter- und Pauls-Festung auf der anderen Seite.
Sie ist das letzte Ziel für den heutigen Tag. Die Festung entstand im frühen 18. Jahrhundert als einer der ältesten Bauten der Stadt. Ihren miliärischen Zweck hat sie heute verloren. Inzwischen dient das weitläufige Areal als Museeum sowie als Naherholungsgebiet für die Einwohner St. Petersburgs, die hier sogar in den Fluten der Neva baden. Znetrales und wohl bedeutendstes Bauwerk der Anlage ist die Peter-und-Paul-Kathedrale. Sie war mit einer Höhe von 122,5 Metern für mehr als ein Jahrhundert das hächste Gebäude der Stadt und wird darin heute nur vom 1962 errichteten, 310 Meter hohen Fernsehturm übertroffen. Im Innenraum der Peter-und-Paul-Kathedrale wurden seit dem 18. Jahrhundert die meisten russischen Zaren begraben. Mit dem Besuch ihrer Grabstätten neigt sich der heutige Tag dem Ende zu. Ich beschließe ihn mit einem Besuch des zur Anlage der Peter- und Pauls-Festung gehörenden Sandstrand. Dort begegne ich endlich auch den Einwohnern der Stadt. Schon bald treffe ich auf Jelena und Dimitri. Sie sind unglaublich sympatisch und offen. Natürlich bestimmt die aktuelle Weltlage unser Gespräch. Aber alles bleibt trotz der heiklen Themen sehr entspannt. Wäre doch nur die Politik Es zeigt sich schnell, dass sie mehr als unglücklich darüber sind. Irgendwie scheien sie zwischen Patriotismus und der Unterstützung ihres Präsidenten und ihrem unbedingten Willen, zum Westen zu gehören, zerrissen.
Der dritte Tag führt mich aus der Stadt hinaus: Etwa 25 Kilometer südlich von St. Petersburg liegt der Katharinenpalast. Er ist eine Art Mahnmal der wechselvollen deutsch-russischen Beziehungen. Erbaut wurde die Anlage als Sommerresidenz für Katharina I., die Ehefrau Peters des Großen. Bekannt ist das Gebäude vor allem für das Bernsteinzimmer, welches sich ursprünglich im Berliner Stadtschloss befand, ehe es der preußische König Friedrich Wilhelm I. dem russischen Zaren Peter den Großen schenkte. Dieser ließ es zunächst im Winterpalast (siehe oben) installieren und später im Katharinenpalast aufstellen und durch den italienischen Architekt Bartolomeo Francesco Rastrelli formvollenden. Im Zweiten Weltkrieg ließen es die Deutschen bei der unheilvollen Belagerung von St. Petersburg wieder herausreißen und im Königsberger Schloss aufstellen. Dort verliert sich die Spur. Bis heute gilt es als verschollen. Im Katharinenpalast, der selbst im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt wurde, begannen 1976 die Arbeiten zur Rekonstruktion des Bernsteinzimmers, die schließlich 2003 beendet wurden. Die Kopie ist wirklich gelungen und das Zimmer beeindruckend. Aber der Katharinenpalast ist mehr als das Bernsteinzimmer. Auch die verzierten Ballräume und kaiserlichen Säle erdrücken mit ihrer unglaublichen und schweren barocken Pracht. Gut, dass die Anlage in einen etwa 600 Hektar großen Landschaftspark eingebettet ist, in dem die russische Gartenkunst aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu bewundern ist. Mehr als 100 historische Gebäude befinden sich auf dem weiten Areal, auf dem seine Auftraggeber die Architektur und die Schönheit der Natur mit Erfolg verbanden.
Damit endet meine Reise nach St. Petersburg. Mein Fazit: Russland ist wohl nirgendwo so europäisch wie in St. Petersburg. Nicht nur wegen der Architektur.