Die New Territories werden in den vielen Reiseführern recht stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht, wie ich finde. Gerade im Norden der Sonderverwaltungszone gibt es unglaublich viel zu entdecken.
Die befestigten Dörfer Hongkongs versetzen den Reisenden über 500 Jahre zurück –und das in einer Stadt, die den Anschein macht, sich alle sechs Jahre komplett zu erneuern. Nur selten bleiben dabei Überbleibsel aus der vorkolonialer Zeit erhalten.
Gleich fünf dieser ummauerten Dörfer sind am Lung Yeuk Tau Heritage Trail zu besichtigen. Sie zu finden ist allerdings alles andere als leicht. Schon bei der Anreise wird mir klar, dass es schwierig werden könnte. Denn je weiter man sich in Hongkong in Richtung Norden begibt, je weniger sprechen die Menschen Englisch. Und der Heritage Trail liegt in den New Territories. Genauer gesagt in der Nähe der Mass-Transit-Railway-Station (MTR) Fanling. Dort angekommen suche ich den im Reiseführer angegebenen Minibus 54K. Obwohl in dessen Windschutzscheibe neben allerhand chinesischen Zeichen sogar ein Schild mit der Aufschrift „Lung Yeuk Tau Heritage Trail“ hängt, versteht der Busfahrer nicht, was ich meine, als ich ihn bitte, mich dort herauszulassen. Das ist allerdings nicht weiter tragisch gewesen, denn die Menschen hier sind unglaublich hilfsbereit. In meinem Bus saß dann tatsächlich doch jemand, der ein paar brocken Englisch verstand und dem Busfahrer mein Anliegen mitteilte. Nach gut 20 Minuten Fahrt stoppt er dann plötzlich und bedeutet mir, dass ich aussteigen soll.
Nachdem ich den Bus verlassen habe, stehe ich vor einer Kirche. Dort soll mein Wanderweg also beginnen. Tatsächlich entdecke ich nach einiger Zeit (sehr) kleine Schildchen, die mir den Weg weisen. Eigentlich hatte ich mir die ummauerten Dörfer in einer ländlichen Umgebung vorgestellt. Zugegeben: Angesichts der enormen Platzprobleme in Hongkong war das eine ziemlich romantische Vorstellung. Tatsächlich sind die Dörfer inzwischen von städtischen Bauten umschlossen, wenn sie auch noch nicht so hoch sind, wie im Süden der Sonderverwaltungszone. Aber auch so ist ein bemerkenswerter Kontrast zwischen Altem und Neuem entstanden.
Gleich das erste ummauerte Dorf wird in meinem Reiseführer als das am besten erhaltene beschrieben. Es heißt Lo Wei und ist über 800 Jahre alt. Die Mauern, die es umgeben, sind mehr als einen Meter dick. Irgendwie fühle ich mich bei ihrem Anblick sehr an mittelalterliche Städte in Europa erinnert, auch wenn ich natürlich weiß, dass sich die Dinge hier ganz anders entwickelt haben. Erstaunlich ist trotzdem, dass dabei ähnliche Ergebnisse entstanden. Leider ist Lo Wei nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Ein Schild im Dorftor weißt mich unmissverständlich und auf Englisch darauf hin. So bleibt mir nichts anderes übrig, als weiterzuziehen. Die nächste Station sind die Tung-Chung-Ling-Ahnenhalle und der Tin-Hau-Tempel. Die Ahnenhalle bauten Mitglieder des Tang-Clans im frühen 17. Jahrhundert zur Erinnerung an Tang-Chung Lee, den Begründer des Clans, der auch heute noch weit verbreitet ist und dem einige der ummauerten Dörfer gehören. Wann der Tempel errichtet wurde, ist dagegen unklar. Man nimmt aber gemeinhin an, dass er älter als die Ahnenhalle ist.
Nachdem ich beide hinter mir gelassen habe, beginnen meine Orientierungsprobleme. Da ich zunächst kein Schild entdecke, beschließe ich der Straße zu folgen, lande aber bald auf einem immer schmaler werdenden Weg, der mich durch ein Gebiet führt, das irgendwie an Schrebergärten erinnert. Schön anzuschauen, doch offenbar nicht der richtige Weg. Ich kehre also um und ärgere mich, dass ich kein Foto von der Karte gemacht habe, die am Anfang des Weges stand. So kann ich nur hoffen, doch noch wieder auf den richtigen Pfad zu gelangen. Am Tempel finde ich dann doch noch ein Hinweisschild, das in die entgegengesetzte Richtung des zuvor von mir beschrittenen Weges weist.
Ab jetzt ist alles einfacher und auf dem verbleibenden Teilstück des Heritage Trail kann ich in die wilde und stürmische Zeit der Piraterie am südchinesischen Meer eintauchen. Das Gebiet des heutigen Hongkong lag damals weit entfernt von Chinas Regierungszentrum und bot mit seinen Bergen und tückischen Küsten ein ideales Versteck für die Piraten. Irgendwann begannen die Bewohner der Gegend dann, ihre Dörfer zum Schutz vor den Piraten und marodierenden Banditen mit hohen Mauern zu umgeben. Zum Teil haben sie diese dann auch noch mit Kanonen bestückt. Innerhalb der Mauern sind die Dörfer keineswegs museal geprägt. Inmitten der Tempel, Pagoden und Brunnen aus Hongkongs vorkolonialer Zeit hat auch der chinesische Alltag seinen Platz gefunden. Man sieht Kinder in den (sehr) engen Gassen Spielen, überall hängt Wäsche und aus den Küchen dringt der Duft von tausend Köstlichkeiten nach außen, so dass ich die Entscheidung hierher zu kommen trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten, den Weg zu finden, nicht bereut habe.
Zurück an der Station Fanling bin ich immer noch voller Tatendrang. Und da Fanling sehr nahe an der chinesischen Grenze liegt, beschließe ich, bis zur Endstation zu fahren, um von dort einen Blick auf das Reich der Mitte zu erhaschen. In Lok Ma Chau, so heißt der Endbahnhof, gibt es jedoch leider keine Möglichkeit, nach draußen zu gelangen. Stattdessen empfängt mich der Hinweis, dass ich mich in einem Grenzgebiet befinde und nur nach Shenzhen in China ausreisen kann. Dafür habe ich jedoch kein Visum, so dass ich mich wieder in die MTR setze, um zurück nach Tsim Sha Tsui zu fahren. Immerhin kann ich auf dem Rückweg doch noch einen Blick auf diese merkwürdige Grenze werfen, die sich innerhalb eines Staates befindet. Dafür ist sie erstaunlich gut gesichert. Ich erkenne in der Ferne Stacheldraht, Wachtürme und viele Laternen, mit denen sie nachts ausgeleuchtet wird. Hinter der Grenze sieht es in China ähnlich aus wie in Hongkong. Zumindest architektonisch haben sich beide sehr angenähert.